Tagebuch Dr. Fritz Traxel
Auszug aus dem ersten Tagebuch
Tatsachenbericht aus dem Zweiten Weltkrieg
6. Juni 1944
Nach fast dreijähriger, ich darf wohl noch sagen erfolgreicher Tätigkeit beim Rüstungskommando Dortmund, muss ich Dortmund verlassen, um einer persönlichen Anforderung des Rüstungsinspekteurs VI und Chef des Ruhrstabs General Karl Erdmann nachzukommen. Ich soll den Leiter der Abteilung Arbeit, Major Neugebauer, ein alter erfahrener Praktiker, auf dem Gebiete des Arbeitseinsatzes und kluger Verhandlungsleiter, ablösen und die immer höher sich türmenden Schwierigkeiten hinsichtlich der Sicherstellung der für die dringlichsten Rüstungsfertigungen erforderlichen Arbeitskräfte noch besser zu meistern, als es mein Vorgänger gekonnt hat. Die Berufung ist sehr ehrenvoll und einer Beförderung mindestens gleichzustellen. Sie bringt jedoch einen dicken Wermutstropfen für mich: die Trennung von Heim und Familie und eine von Sorgenfülle die mit der Zurücklassung einer Familie in einer besonders stark schutzlosen, bombengefährdeten großen Ruhrindustriestadt verbunden sind. Bei schönem Wetter fahre ich frühmorgens mit dem Münchener D-Zug nach Essen und habe nach wenigen Minuten Anschluss zu meinem Reiseziel Kettwig an der Ruhr. Nach einstündigem Wandern über die Ruhrbrücke bis zur Auffahrt zum Schloss Flick, dem Sitz des Ruhrstabes, 150 m über dem Ruhrtal, in herrlicher Ausblickslage, und dann den steilen Waldweg hinauf zur Höhe, melde ich mich pünktlich bei General Erdmann, der mir auf meine Bitte bereitwilligst sechs Tage Urlaub sofort einräumt, die ich zur Abwicklung meiner Dienstgeschäfte beim Rüstungs-Kommando Dortmund für nötig erachtete. Mitten im Gespräch klingelt das Telefon. Der General nimmt den Hörer auf. Sein Gesicht ist sehr ernst, als er gleich darauf die Hand auf die Muschel legt und mir zuruft “Die Invasion hat heute Morgen an der normannischen Küste mit starken Kräften begonnen, schwere Kämpfe sind im Gange.“ Als ich mich bald darauf von ihm verabschiedete und den Berg wieder hinunter in das lachende, schöne Ruhrtal schritt, ahnte ich nicht entfernt, dass dieser Invasionstag zehn Monate später auch mir zum Verhängnis werden sollte.
Januar 1945
Ein halbes Jahr später hatten die Bombenangriffe auf das Ruhrgebiet, besonders auch auf Dortmund, bereits unerträgliche Formen angenommen. Durch die Angriffe am 6. Oktober, 15. und 29. November hatte meine Wohnung empfindlichen Schaden genommen, der aber wieder einigermaßen behoben werden konnte. Nach einem weiteren schweren Angriff im Januar 1945 hielt ich es für zweckmäßig meine Frau und meinen jüngsten Sohn Gerd Rüdiger für einige Wochen zur Erholung mit nach Kettwig zu nehmen. Es glückte mir, in dem freundlichen Einfamilienhaus des Essener Lebensmittelgroßhändlers Oetgen in nur 3 Minuten Entfernung vom Schloss Flick ein nettes Zimmer für sie zu finden. Mitte Januar erkrankte Gertchen plötzlich sehr schwer an einer verschleppten eitrigen Mandelentzündung,die in die Blutbahn geraten war und zu einer Herzmuskelentzündung führte. Dank der Bemühungen unseres Truppenarztes Dr. Brachvogel, Kettwig, eines Herzspezialisten, gelang es, eine lebensgefährliche Krise in den Tagen nach meinem Geburtstag glücklich zu bannen. Immerhin musste der kleine Kerl fünf Wochen das Bett hüten. Kaum war diese Sorge überwunden, als eine neue große Sorge sich erhob. Mein Sohn Hans-Dieter, 16 jährig, war am 4. Januar zum Arbeitsdienst nach Trachtenberg nördlich Breslau einberufen worden. Um den 20. Januar herum waren die Sowjetheere schon so weit nach Westen vorgestoßen, dass Trachtenberg bereits hinter ihnen liegen musste. Wo war unser Junge geblieben? War er noch aus der drohenden Umklammerung herausgekommen? Würde er ohne wichtige Ausbildung und Ausrüstung in aller Eile in die Kampffront mit eingereiht? Fragen, die erst nach langen Wochen durch eine Karte von Hans-Dieter aus einem Arbeitslager, nordöstlich Passaus eine Antwort fanden, die uns beruhigt aufatmen ließ.
Inzwischen war die Front an das linke Rheinufer gerückt. Tag und Nacht rummelte ununterbrochen der Kanonendonner an der nur 14 km entfernten Front war der Himmel mit Bombengeschwadern und Jaboschwärmen angefüllt.
Ein grausiges Bild boten die schweren Nachtangriffe auf Essen, Düsseldorf, Duisburg und Oberhausen, die sich von den Ruhrhöhen ausgezeichnet beobachten ließen. Die Tagesangriffe waren nicht minder schwer. Waren nachts einmal keine Feindflugzeuge gemeldet, schoss eine bei Hövel aufgefahrene Batterie schwere Fernfeuer-Eisenbahngeschütze , dass auch der Verschlafenste aus seinen Träumen entsetzt auffuhr. Einzelne Jabos beharkten die Verkehrsanlagen, ohne dass sich ein einziges Flugzeug zur Abwehr sehen ließ. Es wurde auch auf unserem idyllischen Dienstsitz mit der Zeit so mulmig, dass ich mich zu meinem Leidwesen entschließen musste, Leni mit Gertchen am 4. März 1945 wieder nach Dortmund zurückzubringen, zumal jederzeit ein feindlicher Durchbruch über den Rhein erfolgen konnte, der für die Beiden keine Möglichkeit mehr bringen konnte, das unvermeidbare katastrophale Ende mit meinen beiden in Dortmund verbliebenen Töchtern in einem sicheren Bunker abzuwarten.
Da zudem noch der höhere Polizeiführer West mit seinem Stabe von Kaiserswert nach Schloss Flick überwechselte und Lenis Zimmer frei gemacht werden musste, war die schöne Zeit des Zusammenseins mit Frau und Kind viel schneller als erwartet zu Ende. Schwere Stunden erlebte ich am Polizeiempfangsgerät am 10. März, als ein schwerer Tagesangriff amerikanischer Bomber und am 12. März abends 1100 englische Bomber den Süden Dortmunds restlos vernichteten. War meine Familie rechtzeitig in den 14 m tiefen Stollen 200 m von der Wohnung entfernt gekommen? Hat der Stollen gehalten? Sämtliche Telefonverbindungen mit Dortmund waren zerstört. Ich musste mir persönlich Gewissheit über das Schicksal meiner Angehörigen durch eine Fahrt nach Dortmund am 13. März verschaffen in Verbindung mit einer wichtigen Besprechung mit der Rüstunginspektion in Herdecke. Der Schlussakt des Krieges hat für mich begonnen. Ich lasse darüber die nachfolgenden chronologischen Aufzeichnungen aus meinem mit dem 12.3.1945, dem Tag, an dem ich mein Heim verlor, beginnenden letzten Kriegstagebuch sprechen.
Fortsetzung folgt
schaut auch bei meinem Buch „Briefe an Hans 1945 – 1946“ vorbei